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EXKLUSIV: Fabio Capello ist sich unsicher, ob Thomas Tuchel England gewachsen ist

Capello trainierte England von 2007 bis 2012.
Capello trainierte England von 2007 bis 2012.MICHAEL REGAN / GETTY IMAGES EUROPE / Getty Images via AFP
Während sich Thomas Tuchel darauf vorbereitet, Ende des Monats zum ersten Mal die englische Nationalmannschaft zu coachen, sprach Flashscore exklusiv mit Fabio Capello. Der Italienier ist der einzige lebende Nicht-Engländer an der Spitze der Three Lions gewesen und spricht mit uns über den Druck, der mit der Leitung eines der erwartungsvollsten Länder im Weltfußball verbunden ist.

"Kontrollfreak", "Angst", "sehr streng". All diese Ausdrücke wurden verwendet, um Capello während seiner Zeit als englischen Nationaltrainer zu beschreiben. Als er sich jedoch zum Gespräch mit Flashscore hinsetzt, lächelt und scherzt er, als er uns an einem kühlen Februarmorgen vom Wetter in Italien erzählt.

Sein Lebenslauf und der von Tuchel sind sich erstaunlich ähnlich. Beide haben die Champions League gewonnen, mehrere Ligatitel in verschiedenen Ländern errungen und darüber hinaus individuelle Auszeichnungen erhalten. Nun tritt der deutsche Trainer in die Fußstapfen von Capello, der England als dritter ausländischer Trainer zu einer Weltmeisterschaft geführt hat.

Erfolg auf Vereinsebene ist nicht immer gleichbedeutend mit Erfolg auf der internationalen Bühne - Tuchels Vorgänger Gareth Southgate kann das bestätigen. Aber die Aura, die diese erfolgreichen Trainer umgibt, darf nicht unterschätzt werden. Die Erwartungen werden Tuchel wie ein Schatten folgen, wenn er seine Amtszeit am 21. März im Wembley-Stadion gegen Albanien beginnt.

"England zu managen, ist nicht einfach"

Capello kennt dieses Gefühl. Der Beginn seiner Zeit mit England war heiter, die Mannschaft qualifizierte sich auf vorbildliche Weise für die Weltmeisterschaft 2010, ehe man krachend im Achtelfinale an Deutschland scheiterte. Plötzlich hagelte es mediale Aufmerksamkeit der unschönen Art.

Capello ist der Meinung, dass Tuchel diesen Druck aushalten muss, wenn er erfolgreich sein will: "Es ist eine andere Aufgabe. Für ihn ist es das erste Mal (im internationalen Management), für mich war es das erste Mal. England zu managen ist nicht einfach, weil die Erwartungen unglaublich hoch sind. (...) Die Fans warten auf Ergebnisse und eine Trophäe - aus diesem Grund ist der Druck von Seiten der Fans, der Journalisten und des Fernsehens sehr groß, es ist kein normaler Job."

Tuchel sollte dabei möglich schnell zu seinem Spiel finden: "Als Manager von England muss man sich die Spieler aussuchen. Manchmal spielen die Spieler, die man auswählt, nicht so, wie man denkt. Man muss den ersten Weg gehen, weil das Ergebnis so wichtig ist, wichtiger als wenn man einen Verein managt. Wenn man einen Verein leitet, kann man mehr und mehr Spiele spielen."

Damit man in der Nationalmannschaft einen eingespielten Kern hat, setzt Capello auf eingespielte Gruppen: "Aus diesem Grund muss man drei oder vier Spieler finden, die aus demselben Verein kommen. Sie haben den Geist des Vereins. Diese Mentalität, dieser Geist ist sehr wichtig, wenn man internationale Spiele bestreitet."

Seit Tuchel im Oktober letzten Jahres vorgestellt wurde, haben die beiden nicht über die Rolle gesprochen. Vielleicht ist dies ein Versäumnis des Deutschen, da Capello einen einzigartigen Einblick hat, oder vielleicht ist es auch einfach eine andere Ära - sowohl der Mannschaft als auch des Managements, die diesen Einblick überflüssig macht.

Die Geschichte des Fußballs hat die Tendenz, sich zu wiederholen, und die Lehren aus der Vergangenheit können den Fortschritt in der Zukunft nicht behindern. Wenn man ihn fragen würde, wäre Capellos Ratschlag einfach: Vorbereitung ist der Schlüssel, sowohl auf dem Spielfeld als auch im Presseraum.

"In die Köpfe der Spieler hineinversetzen"

Er fügte hinzu: "Es war eines der wichtigsten Dinge, England zu managen. Es war mein Traum, und als Manager muss man etwas ganz anderes machen. (...) Man muss verstehen, dass dies ein anderer Job ist, das ist das Wichtigste, es ist ein anderer Job. Man muss sich schnell in die Köpfe der Spieler hineinversetzen, man muss den Geist oder die Worte, die man während des Spiels sagen will, vermitteln - das ist wichtig."

Capello sprach über die Beteiligung der englischen Medien am Nationalspiel und wie man damit umgehen sollte: "Man muss sich auf diesen Druck vorbereiten. Das Unglaubliche ist: Ja, ich arbeite in Italien, ich arbeite in Spanien, und in jedem Teil Europas ist die Kommunikation anders. In England sind es die Zeitungen, der Druck der Zeitungen."

"Als ich anfing, waren es zwei oder drei Radio- oder Fernsehsender und 18 oder 19 Journalisten bei der Pressekonferenz. Aus diesem Grund habe ich mich jedes Mal auf die Pressekonferenz vorbereitet, denn es ist wirklich wichtig zu verstehen, dass man manchmal über Dinge sprechen muss, die nicht einfach sind", führte Capello fort.

Lob an Southgate

Tuchel übernimmt, ähnlich wie Capello, die Rolle, wenn England einen Muntermacher braucht. Beide Generationen hatten solide Erfolge auf dem Spielfeld, ohne etwas zu gewinnen. Der Italiener glaubt, dass "Southgate einen fantastischen Job gemacht hat, er kam zweimal ins Finale, aber sie haben die Finals verloren, weil Englands Spieler, als sie im Finale ankamen, nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit spielten, mit der sie zuvor gespielt hatten. "

"Ich war im Wembley-Stadion, als sie gegen Italien spielten, und nach 20 Minuten spielten sie auf Zeit, weil sie Angst hatten, das Finale zu verlieren", erzählt Capello aus dem Jahr 2021: "Aus diesem Grund müssen alle Manager, die England leiten werden, diese Sache verstehen: Sie müssen vergessen, was vorher passiert ist, und nur positiv denken."

Die Millionenfrage - kann Tuchel England im nächsten Jahr zum WM-Titel in Nordamerika führen? Capello weiß wie kaum ein anderer, auf welchem schmalen Grat man sich als internationaler Manager bewegt. Ein Sieg macht einen zum Heiligen in der Nation, während eine einzige Niederlage einen zum Paria machen kann.

Seine Antwort ist daher verständlich: "Ich weiß es nicht."