Wer Boris Becker in dessen "Wohnzimmer" finden will, muss in diesen Tagen gründlich suchen. Das 40. Jubiläum seines sensationellen Wimbledon-Triumphs im Teenageralter feiert der "ewig 17-jährige Leimener" aus der Ferne - und im All England Club sind die Erinnerungen an die deutsche Tennis-Ikone verblasst. Andenken an den 7. Juli 1985, den Tag des Urknalls? Fehlanzeige.
Im Untergeschoss des stets gut besuchten Fanshops liegt das Wimbledon Lawn Tennis Museum, hier wird die Geschichte des ältesten Tennisturniers der Welt interaktiv erzählt. Becker, noch immer der jüngste Champion der "Championships", ist nur eine Randnotiz. Sein junges Gesicht ziert das Werbeplakat eines Getränkeherstellers aus dem Jahr 1988, leicht versteckt neben dem Profil von Pete Sampras auf einer Müsli-Schachtel und einer ausgestellten Kaugummi-Marke von Maria Scharapowa.
Per Urknall ins kollektive Gedächtnis
Auf der Anlage im Londoner Stadtteil SW19 hat sich die Welt weitergedreht. Während der heute 57-Jährige in seiner Heimat auf den Titelseiten prangt, in unzähligen Interviews von seinem Triumph und den Folgen für sein Leben erzählt, ist es an der Church Road stiller geworden um Becker. In diesem Jahr ehrt das Turnier andere, unter anderem Arthur Ashe, der vor 50 Jahren als erster schwarzer Spieler den Titel im Einzel gewann.
In Deutschland hingegen ist Becker bis heute ein nationales Symbol, sein zweiter Matchball um 17.26 Uhr an jenem Sonntag im Juli '85 hat sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Mit einem krachenden Aufschlag verwandelte er ihn zum 6:3, 6:7, 7:6, 6:4 gegen Kevin Curren aus Südafrika. Ein historischer Moment: jüngster Wimbledonsieger, der erste ungesetzte, und sowieso der erste aus Deutschland. Zweimal wiederholte Becker den Triumph, 1986 und 1989 - vor 30 Jahren verlor er sein letztes und insgesamt siebtes Wimbledon-Finale gegen Sampras.
Sein Urknall aber war der erste Triumph. Und dieser hat für Becker alles verändert. "Das ganze Land hat mich umarmt. Das war sicherlich nett gemeint, aber man hat mich fast erdrückt und mir die Luft zum Atmen genommen", sagte Becker: "Ich war immer ein freiheitsliebender Mensch, und plötzlich war diese Freiheit weg."
Der frühe Erfolg hatte seine Schattenseiten
Für seine Gesundheit, sein Leben wäre ein späterer Sieg besser gewesen, meint Becker. Doch sein Coup schaffte eine besondere Verbindung zu dem Ort. Auch nach dem Ende seiner Karriere führte sein Weg immer wieder auf die geschichtsträchtige Anlage, bis er für ihn versperrt war. Nach seiner Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung im April 2022 und seiner Entlassung aus der Haft wegen guter Führung im darauf folgenden Dezember war ihm die Einreise verboten. Er kann sich jetzt wieder darum bewerben.
Becker wäre nicht Becker, hätte er nicht auch diese Krise in seinem Leben durchgestanden. "Was ich beruflich und privat erlebt habe", sagte er Sports Illustrated, "das hält eigentlich keine Sau aus" - vor allem die Behandlung seines Lebens durch die Medien, ergänzte er, sei "beispiellos" gewesen. Er habe "ein tiefes Tal der Tränen" durchschritten, "aber jetzt geht es mir gut". Im Dezember wird er sogar noch einmal Vater. Zum fünften Mal.
Becker ist zudem als Experte geschätzt und gut beschäftigt, und ein klein bisschen Wimbledon bleibt ihm daher auch in diesem Jahr. Nur: Statt wie früher und vielleicht bald mal wieder für die BBC aus seinem "Wohnzimmer" zu kommentieren, ist Becker im zweiten Jahr nacheinander für Sky Italia aus Mailand auf Sendung. Auf Englisch, mit simultaner Übersetzung auf Italienisch. Zudem blickt er in seinem Podcast auf das Turnier, das sein Leben prägte.